Kleine Bergliteratour
Berge zählen zu den Archetypen der Natur. Für den Menschen waren Berge ursprünglich Hindernisse, die es zu umgehen galt. Bergketten bildeten oft unüberwindliche Grenzen. Die Berge waren hinzunehmen. Der Mensch lebte nicht mit den Bergen, geschweige denn auf ihnen, sondern eher „gegen“ sie – bestenfalls angelehnt an ihre Füße und Ausläufer, etwa in Höhlen als natürliche Zufluchtsorte. So ursprünglich und urgewaltig die Berge die Erde prägten, so wenig spielten sie gerade ihrer Urgewalt wegen im Alltag der frühen Menschheit eine Rolle. Wie das Meer zu weit war, waren Berge dem Menschen zu hoch. Sie hatten – ähnlich den Gestirnen – ihren Platz in der Vorstellung der Menschen als besondere, unergründete Orte, die dem Himmel näher waren als der Erde und deshalb als übernatürlich und heilig galten.
Mit Entwicklung der menschlichen Kultur und Technik entstanden die Möglichkeit und der Drang, den Bergen gedanklich und tatsächlich näher zu kommen. Berge gewannen Bedeutung nicht nur in praktischen Kulten, sondern auch in deren Überlieferung. In Naturreligionen wurden und werden hohe Berge als Heiligtümer oder Sitz der Götter verehrt. So sahen Hindus und Buddhisten im indischen Kailash und im Annapurna im Himalaya verehrungswürdige Gottheiten, der Olymp galt als Sitz der griechischen Götter und der amerikanische Llullaillaco wurde als lebensspendende Wasserquelle verehrt. In der biblischen Genesis endet die Fahrt Noahs über die Sintflut auf dem Berg Ararat. Auf dem Sinai offenbarte sich Gott laut der Schilderung in Exodus und übergab Mose die zehn Gebote. Im Altertum hatten Berge und Hügel eine nicht nur geografisch, sondern auch symbolisch herausgehobene Bedeutung. In Athen ließ Perikles die Akropolis mit den wichtigsten Tempeln Erechtheion, Niketempel und Parthenon weit sichtbar auf einem erhöhten Flachfelsen errichten. Rom wurde auf den sprichwörtlichen sieben Hügeln erbaut und beherbergte den Jupitertempel als höchstes Heiligtum, was Theodor Heuss zu dem berühmten Wort veranlasste, das Abendland habe von den drei Hügeln Golgatha, Akropolis und Capitol seinen Ausgang genommen.
Soweit bekannt trat erst im Mittelalter die Möglichkeit einer Besteigung auch höherer Berge in das Bewusstsein der Menschen. Die erste tradierte abendländische Bergbesteigung im 6. Jahrhundert versinnbildlicht den Übergang von kultisch-religiöser Berg-Betrachtung zu einer konkreteren weltlichen Wahrnehmung: So soll der Langobardenkönig Alboin 568 n. Chr. auf dem Zug der Langobarden nach Italien auf einen Berg gestiegen sein, von dem er bis nach Italien blicken konnte. Anklänge an den Blick Mose ins „gelobte Land“ sind unüberhörbar. Die Besteigung des Berges durch den König hatte auch im übertragenen Sinne erhöhende Bedeutung.
Im Mittelalter gründeten Mönche zahlreiche Klöster an und auf Bergen, so Benedikt von Nursia das Mutterkloster der Benediktiner auf dem Stadthügel in Cassino an der Stelle eines im Altertum dem Gott Apollo geweihten Tempels. Francesco Petrarca schildert im Jahr 1336 die Ersteigung des Mont Ventoux und damit die erste bekannte „profane“ Gipfeltour. Mancher sieht darin die Geburtsstunde des Alpinismus. Zugleich liefert Petrarca eine erste literarische Bergbeschreibung, weshalb sein Bericht als Ursprung der Bergliteratur gelten kann. Petrarcas Schilderung vereinigt äußeres Erleben und die in der Höhe gewonnene Perspektive mit der Beschreibung inneren Empfindens. Steigend gewinnt der Wanderer Abstand vom Tal und vom Alltag. Die Höhe gewährt neue Ausblicke und einen zuvor nicht gekannten Überblick. In der Einsamkeit der Berge ist der Mensch auf sich gestellt und kann und muss sich seiner selbst eher bewusst sein als im alltäglichen Gedränge. Der Berg eröffnet die Möglichkeit zu Selbstreflexion und Selbstvergewisserung. Damit beschreibt Petrarca Wesensmerkmale des Bergsteigens und der späteren literarischen Auseinandersetzung mit dem Sujet.
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