„Schreiben und Steigen“ – Bergsteigen und Literatur bei Emil Zopfi

Der in seiner Schreibstube sinnierende Literat, versinnbildlicht in Carl Spitzwegs „armen Poeten“ ist das Gegenbild des Bergsteigers, jedenfalls wenn man sich diesen – gleichfalls klischeehaft – als draufgängerischen, die Herausforderung zwischen Leben und Tod suchenden Tatmenschen vorstellt. So das gängige Bild.

Von Carl Spitzweg – 1. The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. ISBN 3936122202. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH.
2. Wichmann, Siegfried: Carl Spitzweg, München 1990, S. 57 ISBN 3-7654-2306-8
3. Cybershot800i, Eigenes Werk, aufgenommen 17. Juni 2011, Gemeinfrei, Link

Indes gibt es auf den zweiten Blick zwischen Schriftsteller und Bergsteiger Berührungspunkte, die nicht nur dem Umstand geschuldet sind, dass sich Literatur bisweilen mit den Bergen befasst und mancher Schriftsteller gerne klettert. Nein, es gibt eine tiefergehende Verbindung, die wiederum rasch einleuchtet, wenn man unter „Bergsteigen“ nicht die bloße physische (Fort-) Bewegung eines Menschen auf einen Gipfel (und – bestenfalls – wieder zurück) versteht.

Foto von Andrei Tanase von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/mann-der-auf-einem-felsen-steht-1271619/

Wer schon einmal auf einen Berg gestiegen ist, weiß es: Bergsteigen ist anstrengend, aber keineswegs rein körperlicher Natur. Bergsteigen führt den Menschen in die Höhe, in Wind und Wetter, bisweilen in extreme Verhältnisse und meist in die Einsamkeit. Wer auf einen Berg steigt, ist auf sich selbst angewiesen, wird auf sich selbst zurückgeworfen. Der Bergsteiger wird sich seiner selbst bewusst, wird – wie es so schön heißt – mit seinem Innern konfrontiert oder vielleicht besser gesagt: näher bekannt gemacht. So ist Bergsteigen zwar ein physischer, zugleich aber ein geistiger Vorgang – und gleicht darin durchaus der Schriftstellerei.

Der Zauber der Berge – Alpine Selbstreflexion

Der Schweizer Emil Zopfi ist Literat und Bergsteiger in einer Person. Vielleicht gestattet ihm dies, die Gemeinsamkeiten des Schreibens und Steigens so einfühlsam und anschaulich zu beschreiben wie kaum ein zweiter in der gegenwärtigen Literatur:

»Das gehört zum Zauber der Berge: In ihrem Anblick lesen wir uns selbst. Auf Schritt und Tritt begegnen wir unserer eigenen Geschichte in den Formen, Farben, Geräuschen und Gerüchen, die Erinnerungen wecken, Gefühle auslösen, unsere Seele bewegen. Eine Wurzel am Weg, ein Griff in der Wand, ein Sonnenuntergang, fallende Steine oder Nebelschleier lesen wir als Zeichen, als Botschaften. Die Sprache der Natur erzählt uns von unserer eigenen Natur.« (Emil Zopfi, Dichter am Berg, Alpine Literatur aus der Schweiz, Zürich 2009, Seite 16)

Wanderweg – © Katrin von Mengden-Breucker/Marius Breucker

Wie sich dem Bergsteiger mit zunehmender Höhe neue Ausblicke eröffnen, so öffnen sich ihm – gleichsam spiegelbildlich – Einblicke in sein Inneres. Bergsteigen ist kontemplativ, kann es zumindest sein, wenn sich der Steigende auf sein Inneres ebenso einlässt wie auf den vor ihm liegenden Berg und die umgebende Natur. Und wer einmal mit einem Text gerungen hat, seinen Gedanken und Empfindungen Wort für Wort einen Weg gebahnt hat, ein Stück weit gegangen ist, wieder umkehren und den nächsten Anlauf unternehmen musste, der weiß um die körperlichen Anstrengungen des Schreibens. Gemeinsam ist die Binnenrichtung des Blickes, das Schürfen im Innen bei gleichzeitiger Erweiterung des äußeren Horizontes. Sie sind sich also in vielem nahe: Der um die richtige Route ringende Bergsteiger und der um die richtigen Worte ringende Schriftsteller.

Dass Bergsteigen mehr ist als bloße körperliche Ertüchtigung oder Überwindung eines unfreundlichen Hindernisses, dass sich mit Entfernung vom Tal und Alltag der Menschen tatsächlich und geistig neue Perspektiven eröffnen, beschreibt der – auch von Emil Zopfi portraitierte – schweizerische Schriftsteller Meinrad Inglin (1893 bis 1971) eindrucksvoll:

»Jeder Bergsteiger kennt es. Die bewohnte Welt, in der er täglich durch ein Netz von Verpflichtungen stolpert und soviel Trübes sieht, Übles riecht, Lärmiges hört, liegt tief unten, er steht darüber in der reinen, frischen Luft, in lautloser Stille, von andern Bergen still umgeben und vom Himmel gewaltiger überwölbt als in Tälern und Ebenen; er ist über seine Sorgen emporgestiegen und hat sie überwunden wie die Beschwerden des Aufstiegs. Er ist für diesmal befreit davon, und so fühlt er sich in der Tat auch frei und ist höher gestimmt als je im Alltag. Dieses Höhengefühl, ein Hochgefühl eigener Art, teilt das Schicksal aller Hochgefühle, es geht vorüber, der Emporgestiegene steigt wieder ab und muss, gestärkt zwar, mit dem heimlichen Schimmer im Auge, geduldig warten, bis er wieder aufsteigen kann.«
(Meinrad Inglin, Werner Amberg, in: von Matt-Albrecht, Beatrice (Hrsg.), Meinrad Inglin, Werkausgabe in 8 Bänden, Atlantis Verlag Zürich 1981, Band 5, Seite 127).

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Blickt man in die Geschichte zurück, so waren Berge zunächst schlicht „natürliche Größen“; der Mensch musste mit ihnen umgehen, musste mit ihrer Mächtigkeit und Unberechenbarkeit leben. Berge waren Gegenstand mythischer Betrachtungen und Kulte. Erst nach und nach kam der Mensch auf den Gedanken, freiwillig auf einen Berg zu steigen. Mit der geistigen Reflektion dieses Vorgangs wurde das Bergsteigen Teil menschlicher Kultur. Als Ausgangspunkt hierfür gilt vielen Francesco Petrarcars Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux im Jahr 1336.

Erst in der Renaissance und mit dem sich langsam entwickelten neuen Selbstbewusstsein, erkannte der Mensch die Besonderheit und Schönheit der Natur als solcher. Und erst am Ausgang der Barockzeit übertrug der Mensch das neu gewonnene Naturbewusstsein auf die unzugänglichen Berge. Literarisch brachte dies als erster Albrecht von Haller in seinem monumentalen Gedicht „Die Alpen im Jahr 1729 (erstmals veröffentlicht 1732) zum Ausdruck. Jean Jacques Rousseau griff diese Betrachtung auf und vertiefte sie 1761 in „Briefe zweier Liebender am Fuße der Alpen“, die später unter dem Titel „Neue Héloise“ erschienen und in denen er unter anderem die Schönheit der Bergnatur beschreibt.

Foto von Joyston Judah von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/weisse-und-schwarze-bergtapete-933054/

Als Teil der von Rousseaus propagierten Bewegung „Zurück zur Natur“ begannen Menschen, die Berge neu zu betrachten und zu erkunden: „Es begann das Zeitalter der Schweiz-Reisen. In erster Linie waren es wohlhabende Engländer, die nun herbeieilten, um die »Erhabenheit« und »wilde Schönheit« der Berge zu bestaunen. Nicht länger galt die Formlosigkeit der Berge als hässlich, weil »unkultiviert«. Das Gegenteil trat ein. Man betrachtete das Chaos der Formen als »schön«, weil es als natürlich galt und nicht von Menschenhand domestiziert“ (Angelika Wellmann (Hrsg.), Was der Berg ruft, Das Buch der Gipfel und Abgründe, Reclam Verlag, Stuttgart 2000, S. 271).

Nicht „Lesen statt Klettern“ [so der Titel eines Buches des Schweizer Schriftstellers Hugo Lötscher, Anm. Katrin von Mengden-Breucker], sondern „Lesen zum Klettern“ müsse es heißen, sagt Emil Zopfi (aaO, S. 14) und beschreibt damit die Prägung des Bergsteigens durch literarische Berichte. Es waren nicht zuletzt Schriftsteller, die dem Bergsteigen seine heutige Bedeutung gaben: Sie vermittelten eine Sichtweise auf Natur und Berge und deren Wirkung auf den Menschen, die den typischen Charakter eines „Bergsteigers“ ausmachen:

»Die Idee, dass eine Bergspitze ein erstrebenswertes Ziel sein könnte, für das sich Mühe und Gefahr lohnen, nimmt erst durch ihre literarische oder künstlerische Darstellung Gestalt an. Der Weg auf den Berg wird nachvollziehbar in Text und Bild, vom historischen Reisebericht des Dichters Francesco Petrarca über seine Besteigung des Mont Ventoux in der Provence im Jahr 1336 bis zu den Routenbeschreibungen, den „Topos“, den Fotos und Videofilmen der Sportkletterer des 21. Jahrhunderts. Bild und Bericht öffnen den Weg für die Nach- und Weitersteigenden. Klettern wird zu einer Art Lesen, wie die hervorragende Waadtländer Bergsteigerin und Autorin Betty Favre schrieb.« (Emil Zopfi, Dichter am Berg, Alpine Literatur aus der Schweiz, Zürich 2009, Seite 13)

Von Unbekannt – AS Verlag, Zürich. Dichter am Berg., Gemeinfrei, Link

Es waren literarische Schilderungen, die dazu führten, dass sich Menschen in die Berge begaben, um deren Schönheit und Herausforderung nachzuspüren und die Überwindung von körperlichen und geistigen Widerständen auf dem Auf- und Abstieg zu erleben und in ihrem Innern wiederklingen zu lassen. So schufen auch Schriftsteller die Voraussetzungen dafür, dass sich ein Alpinismus im heutigen Sinne – mit allen Auswüchsen und Übertreibungen – entwickelte. Indem sie einen scheinbar banalen Vorgang kulturell überwölben und ihm geistige Bedeutung verleihen, sind Schriftsteller und Bergsteiger also Brüder im Geiste:

»Die geistige Entdeckung und die alpinistische Erschließung der Alpen ist [sic] ohne leitende und begleitende Texte, ohne Berichte und Geschichten nicht denkbar. Bergsteigen als Kultur besitzt urbane Wurzeln wie die Literatur oder die Bildenden Künste.« (Emil Zopfi, Dichter am Berg, Alpine Literatur aus der Schweiz, Zürich 2009, Seite 15)

Autor

Emil Zopfi ist Bergsteiger und Schriftsteller. Angeregt nicht zuletzt durch Bergsteigerberichte in Büchern und Magazinen erfasste ihn früh die Leidenschaft für das Bergsteigen und Klettern, die ihn auf zahlreiche schwierige Touren und Gipfel führen sollte. Zopfi beschreibt eindrücklich seine erste Begegnung mit Bergsteigerberichten:
„Immer wieder musste ich nach dem Buch greifen, auf die Seite mit dem vergilbten Foto blättern; es übte einen mächtigen Reiz auf mich aus, ich musste es betrachten, mir einen Weg vorstellen. Ich musste diesen Berg sehen und vielleicht würde ich ihn trotz aller Furcht einmal versuchen.“ (Emil Zopfi, Dichter am Berg, Alpine Literatur aus der Schweiz, Zürich 2009, Seite 8).

Von Marcel Bertschi, Zürich – Fotograf Marcel Bertschi, Zürich, Gemeinfrei, Link

1962 gelang ihm gemeinsam mit Hansruedi Horisberger eine Winterbesteigung der Südwand des Bockmattli im Wägital. Sein erster großer Berg war der Pilz Badile. Zopfi beschreibt das Gipfelerlebnis:

»Drei Jahre später stand ich mit meinem besten Freund auf dem Gipfel meines Zauberbergs; die Nordostwand des Piz Badile lag unter uns, ein Gewittersturm setzte ein, Hagel peitschte uns ins Gesicht. Wir hatten überlebt, und ich fühlte mich, als hätte ich mit dieser 900 Meter hohen Wand die Schwelle in ein neues Leben überwunden. Ich war erwachsen geworden.« (Emil Zopfi, Dichter am Berg, Alpine Literatur aus der Schweiz, Zürich 2009, Seite 11).

Von Mg-kM. Klüber Fotografie, CC BY-SA 3.0, Link

Emil Zopfi wurde 1943 in Wald im Kanton Zürich geboren und arbeitete zunächst als Entwicklungsingenieur und Computerfachmann in der Industrie. Nach seinem Debütroman „Jede Minute kostet 33 Franken“ 1977 verfasste er weitere Romane, Hörspiele, Kinder- und Jugendbücher, die sich mit den schweizerischen Bergen, aber auch mit anderen Themen, etwa den Einflüssen moderner (Computer-) Technik auf den Menschen auseinandersetzen. Zopfi schreibt aus eigener Erfahrung als Bergsteiger und Sportkletterer, aber doch mit dem kritisch-distanzierten Blick des Schriftstellers. In „Dichter am Berg“ – welch schöner, doppeldeutiger Titel! – sucht Zopfi in zwanzig Portraits, wie er selbst schreibt, „Lesend und kletternd“ Antworten auf die Frage: „Warum schreibt ihr über Berge?“ Zopfi erhielt zahlreiche renommierte Literaturpreise, darunter den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis und den Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Näheres zu Zopfis Werken und seinen lesenswerten Blog finden Sie unter www.bergliteratur.ch.

Katrin von Mengden-Breucker & Marius Breucker

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